Ein Mädchen aus einer italienischen Arbeiterfamilie wird von seiner Primarlehrerin in seinen Talenten erkannt und gefördert. Die Lehrerin motiviert es, ins Gymnasium zu gehen. Die junge Frau erhält Hilfe bei der Vorbereitung und schafft die Aufnahmeprüfung. Später studiert sie und wird Schulpsychologin. Solche Geschichten müssten sich vermehren. Denn leider gibt es zahlreiche gegenteilige Erfahrungen, bei denen Kinder aus tieferen Sozialschichten und aus eingewanderten Familien bei den Übergängen in die nächste Schulstufe mangelhaft gefördert und unterstützt werden.
Die Fakten
Nach der Primarschule teilt unser Bildungssystem die Schüler*innen nach Leistungskriterien den unterschiedlich anspruchsvollen Zweigen der Sekundarstufe I zu, nach der Sekundarstufe II dann in die Berufsbildung und in die Gymnasien. Verlaufen die Prozesse der Auswahl und Zuteilung gerecht? Nein, leider führt der Selektionsprozess noch oft zu starken Ungleichheiten: Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus sind in den anspruchsvolleren Zweigen – in der Sekundarschule A, in Gymnasien, in Berufslehren mit Berufsmittelschule, in Universitäten und Fachhochschulen – massiv untervertreten. Etwas abgeschwächt gilt dies auch für Jugendliche nicht deutscher Erstsprache und mit Migrationshintergrund. Wenn die beiden Faktoren von sozialer Herkunft und Migrationsgeschichte sich kumulieren, ist die Untervertretung besonders stark. Arbeiterkinder sind fünf Mal weniger an Universitäten zu finden als Kinder aus Akademikerfamilien. Auch bei gleichen Schulleistungen finden Arbeiterkinder den Weg zur Universität weniger oft.
Warum ist das so?
Vereinfachende soziologische Erklärungen verweisen darauf, dass sozial weniger privilegierte Familien ihren Kindern mangelhafte Lernanregungen böten und sich für weniger ambitionierte Bildungswege entschieden. Dies führe zu schlechterem Schulerfolg. Mit dieser Erklärung wird den Benachteiligten die hauptsächliche Verantwortung zugewiesen, was zu einer fatalistischen Haltung gegenüber einem Ausgleich der Bildungschancen führt. Ein anderer Erklärungsansatz untersucht die Mechanismen der Benachteiligung im Bildungswesen selbst. Erziehungswissenschaftliche Studien belegen, dass Lehrpersonen Kinder aus tieferen Sozialschichten und eingewanderten Familien in ihren Potenzialen tendenziell oft unterschätzen. Dies führt – als sich selbst erfüllende Prophezeiung – zu weniger Lern- und Schulerfolg. Die Lernförderung in den Schulen orientiert sich zudem oft an einem fiktiven Durchschnittskind aus der schweizerischen Mittelschicht. Kinder aus weniger privilegierten Milieus werden, zum Beispiel im Sprachlernen, nicht dort abgeholt, wo sie stehen. So wird beispielsweise oft vorausgesetzt, dass die Eltern zuhause für gute Lesegewohnheiten der Kinder – in deutscher Sprache – sorgen. Das gesamte Bildungssystem ist zu wenig darauf ausgerichtet, soziale Ungleichheiten zu vermindern. Dass der Zugang zu den Kitas immer noch mangelhaft und oft zu teuer ist und dass die erste Selektion schon relativ früh nach der Primarschule erfolgt, wirkt sich nachteilig für Kinder aus benachteiligten Familien aus. Denn diese Kinder brauchen ab der frühen Kindheit genug Zeit, ihre (deutsch-)sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten aufzubauen und zu entfalten. Bei solchen Benachteiligungen im System und durch die Verantwortlichen des Systems spricht man von institutioneller und struktureller Diskriminierung.
Was tun?
Nach jeder grossen Studie zum schweizerischen Bildungssystem – wie den PISA-Studien – erklären Politiker*innen, Fachleute und Medien einstimmig, dass die ungleiche Verteilung der Bildung nach der sozialen Herkunft eines der grossen Probleme unseres Bildungswesens sei. Es fehlt jedoch an einem starken Willen, dies tatsächlich durch konkrete Massnahmen zu ändern.
Wie könnte und müsste eine wirksame Strategie zu mehr Chancengleichheit aussehen?
Unser Schulsystem muss inklusiver und weniger selektiv werden. Erste Voraussetzung dafür ist, dass die verantwortlichen Behörden und Lehrpersonen sich für all die Spielarten der institutionellen und strukturellen Diskriminierung sensibilisieren. Nur so können sich die Potenziale aller Kinder – in ihrer ganzen Diversität – entfalten.
Markus Truniger, Fachexperte für Schule und Migration, ehemaliger Leiter der Fachstelle «Interkulturelle Pädagogik» in der Bildungsdirektion des Kantons Zürich
Literaturhinweis: Schweizerischer Wissenschaftsrat (2018). Soziale Selektivität – Empfehlungen und Expertenbericht
Ein Mädchen aus einer italienischen Arbeiterfamilie wird von seiner Primarlehrerin in seinen Talenten erkannt und gefördert. Die Lehrerin motiviert es, ins Gymnasium zu gehen. Die junge Frau erhält Hilfe bei der Vorbereitung und schafft die Aufnahmeprüfung. Später studiert sie und wird Schulpsychologin. Solche Geschichten müssten sich vermehren. Denn leider gibt es zahlreiche gegenteilige Erfahrungen, bei denen Kinder aus tieferen Sozialschichten und aus eingewanderten Familien bei den Übergängen in die nächste Schulstufe mangelhaft gefördert und unterstützt werden.
Die Fakten
Nach der Primarschule teilt unser Bildungssystem die Schüler*innen nach Leistungskriterien den unterschiedlich anspruchsvollen Zweigen der Sekundarstufe I zu, nach der Sekundarstufe II dann in die Berufsbildung und in die Gymnasien. Verlaufen die Prozesse der Auswahl und Zuteilung gerecht? Nein, leider führt der Selektionsprozess noch oft zu starken Ungleichheiten: Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus sind in den anspruchsvolleren Zweigen – in der Sekundarschule A, in Gymnasien, in Berufslehren mit Berufsmittelschule, in Universitäten und Fachhochschulen – massiv untervertreten. Etwas abgeschwächt gilt dies auch für Jugendliche nicht deutscher Erstsprache und mit Migrationshintergrund. Wenn die beiden Faktoren von sozialer Herkunft und Migrationsgeschichte sich kumulieren, ist die Untervertretung besonders stark. Arbeiterkinder sind fünf Mal weniger an Universitäten zu finden als Kinder aus Akademikerfamilien. Auch bei gleichen Schulleistungen finden Arbeiterkinder den Weg zur Universität weniger oft.
Warum ist das so?
Vereinfachende soziologische Erklärungen verweisen darauf, dass sozial weniger privilegierte Familien ihren Kindern mangelhafte Lernanregungen böten und sich für weniger ambitionierte Bildungswege entschieden. Dies führe zu schlechterem Schulerfolg. Mit dieser Erklärung wird den Benachteiligten die hauptsächliche Verantwortung zugewiesen, was zu einer fatalistischen Haltung gegenüber einem Ausgleich der Bildungschancen führt. Ein anderer Erklärungsansatz untersucht die Mechanismen der Benachteiligung im Bildungswesen selbst. Erziehungswissenschaftliche Studien belegen, dass Lehrpersonen Kinder aus tieferen Sozialschichten und eingewanderten Familien in ihren Potenzialen tendenziell oft unterschätzen. Dies führt – als sich selbst erfüllende Prophezeiung – zu weniger Lern- und Schulerfolg. Die Lernförderung in den Schulen orientiert sich zudem oft an einem fiktiven Durchschnittskind aus der schweizerischen Mittelschicht. Kinder aus weniger privilegierten Milieus werden, zum Beispiel im Sprachlernen, nicht dort abgeholt, wo sie stehen. So wird beispielsweise oft vorausgesetzt, dass die Eltern zuhause für gute Lesegewohnheiten der Kinder – in deutscher Sprache – sorgen. Das gesamte Bildungssystem ist zu wenig darauf ausgerichtet, soziale Ungleichheiten zu vermindern. Dass der Zugang zu den Kitas immer noch mangelhaft und oft zu teuer ist und dass die erste Selektion schon relativ früh nach der Primarschule erfolgt, wirkt sich nachteilig für Kinder aus benachteiligten Familien aus. Denn diese Kinder brauchen ab der frühen Kindheit genug Zeit, ihre (deutsch-)sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten aufzubauen und zu entfalten. Bei solchen Benachteiligungen im System und durch die Verantwortlichen des Systems spricht man von institutioneller und struktureller Diskriminierung.
Was tun?
Nach jeder grossen Studie zum schweizerischen Bildungssystem – wie den PISA-Studien – erklären Politiker*innen, Fachleute und Medien einstimmig, dass die ungleiche Verteilung der Bildung nach der sozialen Herkunft eines der grossen Probleme unseres Bildungswesens sei. Es fehlt jedoch an einem starken Willen, dies tatsächlich durch konkrete Massnahmen zu ändern.
Wie könnte und müsste eine wirksame Strategie zu mehr Chancengleichheit aussehen?
Unser Schulsystem muss inklusiver und weniger selektiv werden. Erste Voraussetzung dafür ist, dass die verantwortlichen Behörden und Lehrpersonen sich für all die Spielarten der institutionellen und strukturellen Diskriminierung sensibilisieren. Nur so können sich die Potenziale aller Kinder – in ihrer ganzen Diversität – entfalten.
Markus Truniger, Fachexperte für Schule und Migration, ehemaliger Leiter der Fachstelle «Interkulturelle Pädagogik» in der Bildungsdirektion des Kantons Zürich
Literaturhinweis: Schweizerischer Wissenschaftsrat (2018). Soziale Selektivität – Empfehlungen und Expertenbericht